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„Kinder zahlen in allen Lebensbereichen für die Pandemie“

Christoph Treubel ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und bekommt seit der Pandemie doppelt so viele Anfragen. Warum Corona Depressionen bei Kindern fördert und wie er versucht zu helfen.

Was macht Corona mit der Psyche von Kindern und Jugendlichen?

Das muss man differenziert betrachten: je jünger die Kinder sind, desto schwieriger können sie damit umgehen. Selbst für uns Erwachsene ist vieles während der Corona-Pandemie unsicher. Der Unterschied ist, dass, je jünger die Kinder sind, sie sich noch weniger durch die Vorstellung von der „guten Zeit“ vor Corona von der aktuellen Situation ablenken können. Außerdem wissen wir mittlerweile, dass Kinder sich nichtadaptieren, also sich nicht an den Lockdown „gewöhnen“. Die COPSY-Studie[1] hat ermittelt, dass 80% der 7-17-jährigen die aktuelle Situation als sehr belastend empfinden.

Mit welchen anderen Problemen haben sie im Gegensatz zu Erwachsenen zu kämpfen?

In der Lebenswelt von bspw. 7-8-jährigen sind Schule, Sportvereine, Freunde und Hobbies vorherrschend. Die Entwicklungsaufgaben in diesem Alter zielen darauf ab, den Umgang mit Leistung zu lernen oder in Gruppen zurechtzukommen. Bis auf die Familie fällt durch den Lockdown alles weg, was ihr Leben ausmacht. Die Kinder zahlen in allen Lebensbereichen für die Pandemie. Auch die Eltern-Kind-Beziehung leidet, weil Zeit mit den Eltern sonst eigentlich Quality Time bedeutet. Jetzt sind sie Lehrer, Vater, Erzieher und arbeiten gleichzeitig von zuhause.

In welchem Maße kannst du als Psychotherapeut helfen? Verzeichnest du mehr Therapiebedarf?

Ich erhalte doppelt so viele Anfragen. Die psychologische Beratung an Schulen ist seit dem 2. Lockdown faktisch weg, aber wir Therapeuten sind seit Beginn der Pandemie da. Wir schaffen individuelle Therapiemöglichkeiten und geben im Rahmen der geltenden Regeln Empfehlungen, wie bspw. regelmäßig einen Freund zu treffen oder so weit wie möglich aktiv zu sein. Denn bei depressiven Kindern fördern wir sonst möglichst viele Aktivitäten, da müssen wir aktuell kreativ sein, damit das zumindest ansatzweise klappt. Für Kinder mit Ängsten gibt es aktuell wenig Entwicklungsmöglichkeiten, weil sie wenig Chancen haben, im Alltag zu üben, ihre Ängste zu überwinden. Ich versuche mit den Kindern z.B. Corona-Tagebücher zu führen, mit Inhalten wie „Was habe ich heute schönes erlebt?“ und „Was war schwierig und wie habe ich eine Lösung gefunden?“

Welche Problematiken haben sich durch Corona noch verschärft?

Der Lebensrhythmus hat sich verändert und Kinder, die vor Corona gefährdet waren, sind es jetzt noch mehr. Die Schule ist ein wichtiger Sozialisationsraum, dort wird nicht nur gelernt. Freundschaften, die erste große Liebe, der sinnvolle Umgang mit Druck und Leistung. Teilweise fehlt ein ganzes Schuljahr Sozialisationserfahrung. Die Frage ist auch, wann und wie die Folgen aufgearbeitet werden.

Wie siehst du die neuen Beschlüsse? Was kann noch besser gemacht werden und wie sehen vor allem Langzeit-Strategien aus?

Es darf keine Verschärfungen mehr geben, sonst brechen alle Dämme. Die 1-Freund-Regel ist für Familien mit 3 Kindern gar nicht umsetzbar. Und was mache ich, wenn mein Wunschfreund schon einen anderen Freund als einzigen Kontakt ausgewählt hat? Wichtig wäre ein regionales Containment, das nicht nur an Inzidenzen festgemacht wird, mit intelligenten Testkonzepten für Schulen und Kitas. Der Landkreis Ansbach z.B. ist fast so groß wie das Saarland. Wenn in einem Pflegeheim 100 Bewohner an Corona erkranken, ist die Inzidenz schnell oben, aber warum muss dann die Grundschule am anderen Ende des Landkreises schließen? Außerdem braucht es eine Langzeitstrategie, um die Folgen aufzufangen sowie Öffnungsstrategien für außerschulische Angebote, v.a. für Jugendarbeit und Sportvereine.

Nehmen wir an, der Lockdown muss trotzdem noch bleiben? Welche Möglichkeiten haben wir, um die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern?

Ich denke, wir müssen schauen, dass die Hilfssysteme, also z.B. Beratung durch Schulsozialarbeit oder Schulpsychologie, Beratung und Hilfe durch das Jugendamt, Psychotherapie usw. erreichbar bleiben und sich vernetzen. Dann könnten wir auch überlegen, dass wir in den pädagogischen Feldern einfache Maßnahmen einführen, die erreichen sollen, dass die psychische Gesundheit nicht weiter beeinträchtigt wird: Zum Beispiel könnte in den Schulen (auch über Online-Unterricht) informiert werden, dass es gerade normal ist, wenn man schneller gereizt ist oder keine Lust auf gar nix hat. Die Kids könnten auch angeleitet werden, z.B. auf positive Ereignisse zu achten, Tagebücher mit schönen Ereignissen zu führen oder Tipps erhalten, welche Aktivitäten sie „regelkonform“ zu den Infektionsschutzmaßnahmen durchführen können. Genauso könnte man die Eltern anleiten, wie sie ihre Kinder unterstützen. Ein aus meiner Sicht wirklich gutes Angebot ist die Homepage www.corona-und-du.info, die Eltern und Jugendlichen Tipps zur Selbsthilfe gibt. Für diejenigen, die damit alleine nicht klarkommen, sollten dann Schulsozialarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen und natürlich auch Psychotherapeut:innen individuelle Einzelfallhilfe anbieten.

[Anmerkung: Die Homepage corona-und-du.info ist ein Projekt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU München. Hier werden einfache, psychotherapeutisch wirksame Techniken und Verhaltensweisen vermittelt, die v.a. depressiven Entwicklungen vorbeugen.]

 

Bringt die Pandemie auch Vorteile?

Nein, ich kann keine Vorteile erkennen. An die Verbesserung der Bindung an die Familie glaube ich nicht, die Eltern sind eher überfordert, doppelt belastet und gestresst. Und umgekehrt: Je jünger die Kinder sind, desto schlimmer sind für sie Gedanken wie „Das hört nie auf“. Die Unvorhersehbarkeit und der Verlust des gewohnten Alltags sind am schwierigsten. Für die Ursache von Depressionen gibt es einige Theorien, z.B. dass man depressiv wird, wenn alle positiven Verstärker wegfallen, also alles, was dir wichtig ist. Oder die Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“, nach dem Motto: „Wenn du oft genug auf die Schnauze fällst, denkst du, dass du immer wieder hinfällst und sowieso nichts ändern kannst.“ Beides wird für Kinder durch Corona noch verstärkt: Vieles wird weggenommen und gleichzeitig erleben sie: „Du kannst nichts dagegen tun.“ Mein Job als Psychotherapeut ist dann, dass wir gemeinsam schauen: „Was kannst du trotzdem tun? Welche Möglichkeiten hast du, um zumindest ein bisschen was Gewohntes zu erleben?“


[1] Die Studie untersucht die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.